In der Hoffnung, dass dies vielleicht der letzte coronabedingte Online-Archivtag sein könnte, begrüßte der Vorsitzende des VdA-Landesverbands Berlin Torsten Musial am 23. November 2022 die ca. 300 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an den Endgeräten und warf zunächst einen Blick auf die Tätigkeit des Landesverbands im zurückliegenden Jahr mit Archivstammtischen, den Ausgaben der “Berliner Archivrundschau”, dem Weblog „berlinerarchive.de“ u. v. a. (Mitarbeit sehr erwünscht!). Er wies vorab auf den parallel laufenden Chat hin, der in diesem Jahr wesentlich intensiver genutzt wurde, sodass es bei allen Beiträgen zu einem regen Austausch kam.
Michael Scholz (FH Potsdam) stellte in seinem Eröffnungsvortrag der Erschließung aus archivischer Sicht die Ansprüche der Nutzer gegenüber, kulminierend in der bereits 2019 von Mario Glauert formulierten Frage: „Müssen wir anders erschließen?“ Er präsentierte dabei eine ganze Palette aktueller Aspekte: Vereinheitlichung von Erschließungsstandard, Stellenwert des Standards „Records in Contexts“ des Internationalen Archivrats, Lücken in den Metadaten zu früher marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen bzw. Verzeichnungsangaben, die heute als diskriminierend empfunden werden, fehlendes Verständnis auf Nutzerseite für hierarchisch strukturierte Erschließungsangaben, fehlende Akzeptanz aktueller Nutzerbedürfnisse auf Seiten der Archivare. Grundlegendes Problem seien die teilweise hohen Erschließungsrückstände, die eine Neuerschließung ganzer Bestände bzw. die Anreicherung mit zusätzlichen Informationen nicht zuließen. Tatsächlich bestimme ein eher trotziger Pragmatismus auf Grundlage der je eigenen Erschließungsrichtlinie das Bild. Aus seiner Sicht führe kein Weg an der Vergabe an kommerzielle Dienstleister vorbei, wenn man die finanzielle Ausstattung und die Arbeitsmarktsituation betrachte, die durch Crowdsourcing aufgrund des hohen Aufwands von Vor- und Nachbereitung nicht ausgeglichen werden könne. Erschließung dürfe sich nicht an bestimmte Forschungsinteressen binden. Bei Themen, die quer zur zeitgenössischen Logik liegen und sich nur schwer über Findmittel recherchieren ließen, plädierte Scholz für die Wiederkehr der Spezialinventare sowie Themenportale als alternative Zugänge zu den Quellen. Schließlich verwies der Referent auf die Anreicherung durch Normdatensätze, die ein hohes Potential für die Nutzung darstellten, für viele kleine Archive aber noch Zukunftsmusik seien. In erster Linie sollten möglichst viele Bestände mit einer flachen Erschließung überhaupt erst einmal benutzbar gemacht werden.
Thekla Kleindienst stellte in ihrem Beitrag die Bewertung und Erschließung „on demand“ im Bundesarchiv vor, um aus der Misere auszubrechen, dass nichterschlossene Bestände grundsätzlich nicht benutzbar seien. Am Beginn stehe ein Nachweis aller Bestände in der archivischen Fachanwendung ohne Rücksicht auf den Erschließungsgrad. So könne der Benutzer seinen Wunsch artikulieren, der zur Bewertung und Erschließung im Einzelfall führe. Freilich könnten dabei auch nichtarchivwürdige Unterlagen „vor der Nase des Benutzers“ kassiert werden, wofür um Akzeptanz im beiderseitigen Gespräch geworben werde.
Miriam Sprau und Kevin Dubout (ebenfalls Bundesarchiv) stellten Themenportale ins Zentrum ihres Vortrags. Anhand des Portals „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ wurden die Vorteile, aber auch die Klippen der Projekte deutlich, die einen einfacheren Zugang und die Sichtbarmachung sich ergänzender Überlieferungen in verschiedenen Archiven böten. Die Umsetzung erfolge durch Verschlagwortung auf der Grundlage eines kontrollierten Vokabulars, das in der klassischen Erschließung nicht auftauche. Gleichwohl handele es sich um eine Gratwanderung an der Grenze zur historischen Auswertung. Mit dem Umstand, dass die themenbezogene Zuweisung zeitgebunden sei, müsse man leben können. Die hohen Zahlen bei der Verweildauer der Nutzer habe überrascht und rechtfertige den Aufwand des erneuten Anfassens bereits erschlossenen Archivguts. Auf die Frage, ob die Verschlagwortung in einem Themenportal zum Tod des Enthält-Vermerks führe, lautete die Antwort: „Ein bisschen schon.“
Yvonne Reimers stellte die Erschließung des Sammlungsarchivs im Museum für Naturkunde vor. Aufgrund von Nutzeranalysen sei ein erweiterbarer Minimalstandard entwickelt worden, der eine relativ flache Erschließung großer Mengen beinhalte. Die industriell wirkende Bearbeitung sei Teil einer Ausstellung, die für den Museumsbesucher unmittelbar erfahrbar sei und Transparenz biete. Darauf baue eine im Kern als nutzergetrieben verstandene Erschließung auf.
Dem Thema „Crowdsourcing“ widmeten sich die zwei folgenden Beiträge. Joachim Kemper stellte den Arbeitskreis Offene Archive vor, bevor er über das Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg im Kontext der städtischen und regionalen digitalen Vernetzung sprach. Digitales Stadtlabor und analoger Digitalladen böten unmittelbare partizipative Möglichkeiten, um gemeinsam Stadtgeschichten zu teilen, aber auch einen niedrigschwelligen Zugang zu Stadtgeschichte und Digitalthemen zu schaffen. Aus dieser Idee sei auch das „HeimatHub für den bayerischen Untermain“ entstanden. In einem inspirierenden Vortrag präsentierte Christa Zwilling-Seidenstücker das Projekt „Everynamecounts“ der Arolsen Archives. Zunächst als archivpädagogisches Konzept geplant, weitete sich das Projekt zu einem weltweiten Crowdsourcing zur Erfassung von Namen und Lebensdaten der Opfer des Nationalsozialismus, das von den Freiwilligen als sinnstiftend verstanden und mit hohem Engagement betrieben werde. Überrascht habe das globale Interesse sowie die Qualität der ermittelten Daten. Aus Corona eine Tugend machend, habe sich die Entwicklung hin zum Online-Projekt ergeben, an dem mittlerweile 27.000 registrierte Freiwillige mitarbeiteten, die weitgehend selbständig wirkten und sogar zusätzliche Informationen in einem Forum austauschten. Man habe sich bei der technischen Umsetzung für die frei verfügbare Plattform „Zooniverse“ mit ihrer intuitiven Benutzeroberfläche entschieden. Es sei ein Citizen-Science-Projekt „vom Feinsten“, das bei überschaubarem Betreuungsbedarf mehr erbracht habe als erwartet. Nach einer Korrektur würden die Daten zeitnah online gestellt, was eine zusätzliche Motivation bedeute.
Das dritte Panel widmete sich den Normdaten. Daniela Tamm und Anna Bohn vom Bundesarchiv warfen einen instruktiven Blick auf vernetzte Normdaten zu Filmwerken in dem Projekt „GND4Film“. Zum einen solle der Mangel an Normdaten zur Mehrzahl der in den beteiligten Archiven vorhandenen Filmwerke abgebaut werden. Zum anderen zielt das Projekt auf die Verknüpfung verschiedener Filmfassungen untereinander und mit filmbegleitenden Materialien wie bspw. Plakaten und Photographien. Ziele seien eine eindeutige Identifizierung der Werke, eine Verbesserung der Sichtbarkeit der Bestände und der domainenübergreifende Datenaustausch. Die Erschließung – je tiefer, desto besser – sei in jedem Fall die Grundlage, um sich zu verständigen und die Daten anreichen zu können.
In der Aktuellen Stunde des VdA-Landesverbands Berlin stellte Ingrid Kohl (GStA) die Arbeit der Berliner Notfallverbünde bei der Sammlung von Hilfsmaterialien für den Kulturgutschutz in der Ukraine vor, Steffen Ostermeier und Sandra Neumann berichteten über ihr Projekt „DDR-Fotoerbe“, in dem u.a. über 1 Mio Aufnahmen des Berliner Verlags vor dem Untergang gerettet wurden. Lysann Goldbach vom Historischen Archiv der Kreditanstalt für Wiederaufbau beleuchtete die Problematik eines Wirtschaftsarchivs und dessen Beitrag zum 75jährige Firmenjubiläum.
Wie in den Vorjahren bildete eine Podiumsdiskussion den glanzvollen Endpunkt des Archivtags. Interessant war hier der – stets freundliche – Schlagabtausch zwischen Andrea Rottmann von der Freien Universität als Nutzerin und Michael Scholz als Vertreter der Archivare. Streitfragen waren u. a.: Wie weit sollten sich Archive in ihrer Erschließung an aktuellen Forschungsinteressen ausrichten? Wieviel bei der Benutzerberatung hilfreiches Spezial-Wissen kann/soll ein Archivar besitzen? Wieviel Verständnis für den Entstehungskontext von Unterlagen benötigt ein Benutzer? Kann bei der Erschließung das Festhalten am Provenienzprinzip unabhängig von aktuellen Forschungsinteressen machen? Aus archivarischer Sicht ist wohl unstrittig, dass es in Anbetracht der allgegenwärtigen Erschließungsrückstände finanziell und personell unrealistisch ist, Bestände regelmäßig neu zu erschließen. Der Enthält-Vermerk wird so schnell also nicht aussterben.
Die Beiträge des 5. Berliner Landesarchivtags werden in einem Tagungsband veröffentlicht, der voraussichtlich im ersten Halbjahr 2023 erscheinen wird.